Fortschrittsgedanken: Joachim Diercks

Fortschrittsgedanken: Joachim Diercks


Zum Format:

"Fortschrittsgedanken" erscheint wöchentlich auf dem FAIR.nrw Blog und stellt die Meinung verschiedener Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis zu immer gleichbleibenden Fragen dar. Dabei geht es primär um das Thema Algorithmen in der Personalauswahl.

Meinungsbarometer

Zum Autor:
Joachim Diercks ist Gründer und Geschäftsführer der CYQUEST GmbH in Hamburg. CYQUEST ist einer der führenden Anbieter unternehmens- und hochschulspezifischer Lösungen aus den Bereichen Eignungsdiagnostik (Online-Assessment) sowie Berufs- und Studienorientierung. Diercks ist Gastdozent an verschiedenen Hochschulen, Herausgeber des Buchs "Recrutainment" (2014), Autor zahlreicher Fachartikel zu Recruiting-Themen sowie regelmäßiger Referent bei HR-Fachkongressen. Mit dem Recrutainment Blog zeichnet er für einen der meistgelesenen deutschsprachigen HR-Blogs verantwortlich.

Welche Chancen bieten Algorithmen in der Personalauswahl und wo liegen Risiken?
Die Chancen sehe ich insb. bei der 24/7-Verfügbarkeit, z.B. wenn ein Bot auch an Wochenenden Standardfragen beantwortet, bei der Geschwindigkeit, z.B. bei der Erstsichtung größerer Mengen an Bewerbungen und drittens auch bei der Beurteilungsqualität bzw. Validität. Letzteres aber nicht in dem Sinne, dass ein Algorithmus per se „besser“ beurteilen kann, sondern dahingehend, dass durch Algorithmen wertvolle zusätzliche Merkmale in die Bewertung einfließen können, die ansonsten im Dunkeln blieben. Beispiel: Informationen über die kognitive Leistungsfähigkeit, ermittelt durch einen Test. Riskant wird es immer dann, wenn die Bewertung eines Algorithmus nicht mehr nachvollzogen oder „erklärt“ werden kann.

Welchen Einfluss hat Diskriminierung in der Personalauswahl?
Einen unheimlich großen. Leider. Kandidaten werden aufgrund ihrer Ethnie, Geschlechts oder allein schon wegen ihres Vornamens aussortiert. Andere wiederum positiv bewertet, weil sie zufällig ein ähnliches Hobby haben wie der Recruiter oder der Hiring Manager. Nicht erst durch „Black Lives Matter“ sind wir alle aufgefordert, diese Dinge aktiv zu verbessern. Denn Diskriminierung ist ja nur in den wenigsten Fällen etwas „Vorsätzliches“. Meist geschieht dies unbewusst. Dagegen hilft vor allem eines: Sensibilisierung. Dann kann man da auch aktiv gegen vorgehen und Dinge verbessern. Wichtig: Das ist nicht nur ethisch geboten, sondern auch – ganz kühl – aus betriebswirtschaftlicher Sicht sinnvoll. Diskriminierung macht die Personalauswahl nämlich schlicht qualitativ schlechter.

Können Algorithmen dabei helfen Diskriminierung in der Personalauswahl abzubauen?
Ja natürlich! Wenn ein Algorithmus in Form eines Tests z.B. Informationen über die Problemlösekompetenz eines Bewerbers liefert, dann ist das nicht nur eine Information, die man ansonsten gar nicht wirklich aus den Bewerbungsunterlagen hätte herauslesen können (womit die Qualität der Beurteilung besser – „valider“ – wird), sondern diese Information ist vollkommen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Alter etc. Aber natürlich können auch Algorithmen diskriminieren! Einfaches Beispiel: Ein Algorithmus „Wenn Geschlecht = weiblich, dann Aktion = Absage“ wäre höchst diskriminierend. Und je komplexer Algorithmen werden – Stichwort „neuronale Netze“, desto besser lassen sich enthaltene Diskriminierungen auch darin verstecken.

Ganz konkret: Wie sieht der ideale Prozess für die Personalauswahl aus? 
“Den” idealen Auswahlprozess gibt es wahrscheinlich nicht. Aber wenn folgende Zutaten berücksichtigt warden wäre es schon nicht so schlecht:
1. Maximal transparentes Personalmarketing im Sinne von Realistic Job Previews, weil darüber die “Selbstauswahl” von Kandidaten erheblich verbessert wird.
2. Ggf. Einsatz eines SelfAssessment-Tools, worüber Interessenten für sich herausfinden können, ob sie sich überhaupt bewerben wollen und sollten. Und wenn ja, worauf. Auch das ist Selbstselektion.
3. Einfache Online-Bewerbung, die wenige für eine Erstselektion relevante Merkmale (und auch nur die!) erfragt.
4. Online-Assessment. Auf jeden Fall zur Messung kognitiver Leistungsfähigkeit, evtl. auch für Persönlichkeitsmerkmale.
5. Strukturiertes (mind. teilstrukturiert) Interview. Darin enthalten: Biografisches, aber auch anforderungsbezogene Aufgaben und Arbeitsproben.
6. Informelles Gespräch (“Coffee-Talk”) mit potentiellen zukünftigen Kolleg_innen.

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